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"Haderbücher": Abschluss des ehrgeizigen Editionsprojektes

Mit jemandem oder etwas hadern, heißt heute, sich über jemanden zu beklagen, sich mit jemandem zu streiten oder über etwas unzufrieden sein. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit bedeutete es aber auch, einen Prozess zu führen, in dem der Streit, der Hader, zwischen den Parteien ausgetragen wurde. Und so tagte das Ingelheimer Schöffengericht mehrmals wöchentlich an einem der vier Standorte in Ober-Ingelheim, Nieder-Ingelheim, Wackernheim und Großwinternheim und nahm sich des alltäglichen Haders an. 

Über einen Zeitraum von exakt 147 Jahren (1387 bis 1534) sind in den 19 vollständig erhaltenen und in Kopert gebundenen Bänden, die im Ingelheimer Stadtarchiv verwahrt werden, die angefallenen Prozesse dieses Laiengerichts dokumentiert und stellen damit für die heutige Forschung eine einzigartige Quelle dar, die eine Fülle interessanter Informationen zum Leben in früheren Epochen bietet. Die Protokollbücher gelten damit als die ältesten seriell erhaltenen gerichtlichen Textzeugnisse im deutschsprachigen Raum. 

Fünf dieser Bände sind in Folge des Abschlusses verschiedener Verträge mit dem damaligen Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V. (IGL; seit 2022: Institut für Geschichtliche Landeskunde Rheinland-Pfalz e. V.) auf Initiative der Stiftung Ingelheimer Kulturbesitz seit dem Jahr 2010 im Rahmen des Editionsprojektes „Ingelheimer Haderbücher“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, in dem nicht nur die für die wenigsten Menschen lesbare Schrift von Mitarbeitern des IGL transkribiert, sondern auch die kaum verständliche Sprache in heute begreifliches Deutsch übersetzt wurde. Die Reihe wurde finanziell von der Stadt Ingelheim (Bände 1-5) und dem Unternehmen Boehringer Ingelheim (Band 1) getragen. Für die Bände 3 und 4 erfolgte darüber hinaus ein finanzieller Zuschuss durch die Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur. 

Band 1 (Ober-Ingelheim 1476-1485) konnte am 1. Juni 2011 in Räumlichkeiten von Boehringer Ingelheim präsentiert werden. Band 4 (Ober-Ingelheim 1518-1529) wurde als bislang letzter Band im Dezember 2015 in der Drucklegung der Öffentlichkeit vorgestellt und nimmt zugleich eine Vorreiterrolle ein, denn im Rahmen dieser Präsentation wurde das Versprechen gegeben, die Errichtung einer Datenbank umzusetzen. Nach reiflicher Überlegung hatten sich alle Beteiligten dazu entschlossen, dass das Projekt moderner, zeitgemäßer – eben digitaler – werden sollte und so entschied der Stadtrat der Stadt Ingelheim im September 2015 die Verschlankung der zukünftigen Drucklegungen und die Errichtung einer Datenbank, wodurch der Grundstein dafür gelegt war, dass die alten Geschichtsbücher nun in der Moderne angekommen sind. Die offizielle Onlinestellung von Band 4 erfolgte im Oktober 2017. Es schlossen sich an die Onlinestellung des Großwinterheimer Bandes im März 2019 und des zwar offiziell nicht zur Editionsreihe gehörigen, aber im Bestand vorhandenen einzigen Wackernheimer Bandes im September 2020. Mittlerweile sind sämtliche Bände der Editionsreihe über www.haderbuecher.de im Netz abrufbar. 

Ende Juni wurde nun im Bürgerhaus Großwinterheim der Kreis geschlossen. Mit der Präsentation des Großwinternheimer Bandes der Jahre 1490 bis 1502 fast an historischer Stelle kann nach nunmehr 13 Jahren der erfolgreiche Abschluss des Editionsprojektes realisiert werden. Denn ganz in der Nähe des Bürgerhauses, auf einem Platz vor der katholischen Kirche, an der sich damals die Hauptstraße und ein kleiner Marktplatz befanden, wurden damals die Gerichtsverhandlungen abgehalten – für gewöhnlich alle paar Wochen und in der Regel donnerstags. Es ist der einzig erhaltene Band dieses heutigen Ingelheimer Ortsteils. Der Forschung sind zwar ursprünglich vier komplette und zwei in Konzeptform vorhandene Bände bekannt, doch nur dieser hier hat die Wirren der Zeit überstanden.

Knapp 300 Blatt saubere Einträge, verpackt in einen Band von 6 Zentimeter Breite, berichten über die dortigen Streitigkeiten und zeichnen ein Bild vom Leben eines Dorfes um die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit; beginnend „Anno d(omi)ni etc XC / qui(n)ta p(ost) Pu(r)ifiac(aci)o(nem) Ma(r)ie“, also am 5. Tag nach Mariä Lichtmess, ergo am 4. Februar 1490 – wohlgemerkt nach damals gültigem Julianischen Kalender, da der heute verwendete Gregorianische Kalender erst im Jahr 1582 hiesigen Orts eingeführt wurde (laut diesem wäre schon der 13. Februar 1490). Adäquat zu Band 4 wurde für die Drucklegung aber keine Komplettübertragung des Bandes mehr vorgenommen – diese erfolgte allerdings 1:1 für die Onlinestellung –, sondern spannende Fälle, Anekdoten und interessante Hintergrundinformationen wurden im Buch zusammengestellt.